Damit ich mir einbilden kann, meine Prokrastination sei, wenn schon nicht für mich, so doch für irgendwen sinnvoll, schreibe ich während meiner Arbeitszeit gerne an der Wikipedia mit (die Kolumne berichtete). So viel sich gerade über die deutschsprachige Wikipedia und einige kontroll- und löschwütige Admins schimpfen lässt, ist es schon immer noch eines der größten Wunder unserer Zeit, dass dieses Projekt überhaupt so gut funktioniert, wie es funktioniert.
Über weite Teile des sonstigen Internets kann ich derzeit nicht mal so vorsichtig und eingeschränkt Positives sagen. Naturgemäß ist beim Befund, dass früher alles besser war, immer Vorsicht geboten: Es kann auch einfach daran liegen, dass ich 400 Jahre alt bin und die aktuell guten Ecken oder Aspekte des Netzes nicht kenne.
Doch lässt mich der Verdacht nicht los, dass wir uns gerade an einem objektiven Tiefpunkt befinden: Es ist egal, welche Social-Media-Plattform – gehören tun sie 2023 allen mehr oder weniger dubiosen Firmenkonstruktionen und/oder queerfeindlichen rechtsradikalen Milliardären. Als Ziel haben sie alle nicht, dass wir dort in einem sinnvollen Austausch mit anderen Mäusen treten, sondern dass wir dort möglichst viel Zeit und Daten lassen – was sie damit erreichen, den Nutzer*innen möglichst viel Empörung und Gegenempörung um die Ohren zu schmeißen. Wer noch halbwegs gut zu sich selbst ist, rennt davon schreiend davon, der Rest postet über das aktuelle Weltgeschehen als wäre es ein Fußballmatch.
Das ist dem Vernehmen nach neben allem anderen auch für Veranstaltende in den Nischen (wie der p.m.k) belastend, denen es über ihre gewohnten Social-Media-Kanäle zunehmend schlechter gelingt, ihr potentielles Publikum zu erreichen.
Über solches grübelte ich am Fahrrad am Weg zum Eisbaden am Baggersee (die Kolumne berichtete). Als eine eine Kolumne schreibende Person finde ich natürlich aufgrund der journalistischen Sorgfaltspflicht alle Stadtteile gleich gut, aber persönlich kann ich angesichts des Gewerbegebiets Roßau meine Abscheu vor Gegenden nie ganz unterdrücken, die für private Kraftfahrzeuge statt für Menschen gemacht sind. Neulich war ich dort anlässlich einer dort statt findenden Aufführung einer Stückentwicklung von Theater Praesent in einem sex-positiven Club und fand es grotesk, dass dieser in einer für mich so unsexy Gegend angebracht ist – aber das sehen andere augenscheinlich ja anders.
Übrigens wurde ich vor Jahren ohne mein Zutun zu einer Facebook-Gruppe hinzugefügt (ob zwischen dieser Gruppe und dem Club ein Zusammenhang besteht, lässt sich nicht mehr mit letzter Sicherheit feststellen, da das Internet zum Glück das meiste doch sehr schnell vergisst, aber ich will es mal so sagen: der Vibe ist ähnlich), deren Ziel es wohl war, Leute für sexpositive Partys zu rekrutieren. Ich fand es zwar bizarr, dafür random Leute zu einer Facebook-Gruppe hinzuzufügen, doch aufgrund meiner allgemeinen Neugier lurkte ich dort einige Zeit fröhlich vor mich hin. Naturgemäß steht mir kein Urteil darüber zu, wie erwachsene Menschen ihre Sexualität konsensuell ausleben oder auch nicht ausleben, aber aufgefallen ist mir halt doch, wie strikt cis-heterosexuell diese Community war. Ich will damit gar nicht sagen, diese Leute wären irgendwie queerfeindlich, es schien in deren Welt Queerness nur gar nicht vorzukommen. Dass es sowas im aktuellen Jahrtausend noch gibt, erstaunte mich doch. Ich hoffe natürlich trotzdem, dass diese Mäuse insgesamt eine gute Zeit miteinander hatten und haben, denn nur darauf kommt es letztlich ja an.
Und dass Social Media ein so furchtbarer Ort geworden sind, hat natürlich auch sein Gutes, so komme ich zuletzt wieder mehr zum Bücher lesen. Zuletzt las ich so „The Freezer Door“ von Mattilda Bernstein Sycamore (und was Leute wie sie gerade auf Social Media posten, will ich lieber gar nicht wissen), eine Mischung aus Memoiren, Theorie und dissoziativ-poetischen Fragmenten. Sycamores Erinnerungen an Seattles Cruising-Szene bietet gelinde gesagt schon einen gewissen Kontrast zur Roßau und manchen Clubs und Facebook-Gruppen Tirols, und (wie ich mir zuletzt angewöhnt habe zu sagen angesichts solcher Sachverhalte) es ist doch schön, dass die große Familie der Menschheit so vielfältig ist.
Sie ist sogar so vielfältig, dass es Leute gibt, die im Internet sich nicht sinnlos befetzen, sondern in einen sinnvollen Austausch treten, wie z.B. auf der Diskussionsseite des Wikipedia-Artikels „Natur des Jahres“, wo in einem Versuch, Kritik differenziert zu kritisieren, der Titel dieser Kolumne fiel, der neben allem anderen auch ist: ein Gedicht.
- Martin Fritz