Die Liebe so heisst es, sei in der Lage Berge, die Kunst so heisst es, sei in der Lage die Menschen in andere Sphären zu versetzen. Stimmt aber nicht. Das Einzige, was wirklich dazu in der Lage ist, ist Fussball. Eigentlich habe ich mir vorgenommen, nicht über Fussball zu schreiben, aber ich habe kapituliert. Da in diesen Wochen ohnehin kein anderes Thema eine Chance hat, ist alles andere sinnlos. Mir persönlich ist Fussball weniger Thema als Rätsel, wenngleich ich zugeben muss, dass mich Maradona dazumal fast verführt hätte. Ein Phaszinosum ist es allemal. Erinnern wir uns an Cordoba. Ein einziges Spiel, ja eigentlich ein einziges Tor hat einer ganzen Nation ihre Identität verliehen. Und zwar jeglicher späteren realen Realität zum Trotz bis in alle Ewigkeit. Unauslöschlich quasi. Und sie hat einen einzigen Mann zum Liebling aller gemacht. Unwiderruflich.
Um es in der Kunst (und geschweige denn in der Liebe) dauerhaft zu einer derartig magischen Identitätsstiftung zu bringen, ist unglaublich mehr Anstrengung nötig. Und seien wir uns einmal ehrlich: Ist die kleine Nachtmusik wirklich die Zuckerseite unseres Lebens? Oder etwa die gemalten Sonnenblumen von Van Gogh? Obwohl er, um sie zu sehen, unzählige Sonnenstiche in Kauf, sich darüber ohne Ende mit Absinth betäuben und letztendlich noch das Hören (sein Ohr) geopfert hat? Oder: wer redet schon von Louis Kahn? Oliver Kahn, den kennt jeder. Fussball ist in der Lage, den Alltag ganzer Kontinente ausser Kraft zu setzen und Emotionen zu wecken, die Normalsterbliche nur beim Tod eines geliebten Menschen oder in der gemeinsamen Erschöpfung nach dem Liebesakt kennen. Sehnen wir uns nicht alle nach Identität und danach, die Zwänge unseres Alltags zu sprengen? Arbeiten wir in Wahrheit deshalb nicht alle an grossen Emotionen?
Und was tun wir nicht alles dafür: Wir komponieren, malen und entwerfen, wir denken nach, bauen, schreiben und rezipieren, wir vernetzen und machen Lobbying. Wir entwickeln Konzepte, koordinieren, kooperieren und bilden Synergien. Wir zerbrechen uns die Köpfe, haben schöpferische Krisen, wir zeichnen, skizzieren, machen grosse Würfe, wir verwerfen und fangen von vorne an. Wir üben und proben, wir dichten, spielen Rollen, wir inszenieren und führen Regie. Wir verzweifeln an unseren Ansprüchen, genügen uns selbst nicht, bleiben unentdeckt. Wir schlagen uns mit Verlegern, Galeristen und Bauherrn herum, wir buhlen um die Gunst unseres Publikums, haben Lampenfieber. Wir haben Stösse von unveröffentlichten Manuskripten in unseren Schubladen. Wir saufen, können nicht schlafen und bekommen graue Haare. Wir studieren, archivieren, verwalten, wir trauern alten Zeiten nach. Wir inspirieren, organisieren, kuratieren, lesen Bücher, wir diskutieren und demonstrieren. Wir machen Pressearbeit, informieren und sind immer bestens informiert.
Und dabei wäre doch alles so einfach.
In Wahrheit stellt sich dieser Tage eine einzige Frage: Warum strengen wir uns eigentlich so an? Eigentlich bräuchten wir nur einmal ein Tor für alle schiessen!
Das ist Sache von ein paar Sekunden...
Ulli Mair