So viele Fragen müssen wir uns stellen

DiedrichsenBesuchte ich wirklich neulich in Wien die Vorlesung des Pop-Papsts und Professors für Theorie, Praxis und Vermittlung von Gegenwartskunst Diedrich Diederichsen, weil ich mir davon neue Erkenntnisse erhoffte? Oder ging es mir nicht eigentlich darum, zu fanboyen, also den Poptheoriestar einmal in Fleisch und Blut vor mir zu sehen? Hatten mir nicht Jahre dekonstruktivistischer Theorielektüre jeden naiven Glauben an Präsenz, Primat, Unmittelbarkeit und Authentizität eines Live-Moments ausgetrieben? Oder hatte genau dieses Wissen dazu geführt, dass ich diesen auf höherer Ebene umso intensiver genoss, zumal ein Poptheoriestar so viel anderes als ein Popstar auch nicht ist? Oder waren es noch gänzlich andere Motive, die zu meinen Vorlesungsbesuch führten, ein schwierig zu verstehender Motivationscocktail aus Prokrastination und Zwischenmenschlichem? Und wann und wie hatte ich eigentlich nochmal zu genießen gelernt, dass mir die Motive meines eigenen Handelns intransparent sind und ich nicht länger ein souveränes Subjekt namens „Ich“ als die Ursache meines Handelns wahrnehme?

RotiferHatte einige Wochen zuvor der Popjournalist und Popmusiker Robert Rotifer bei seiner Mischung aus Konzert, Gespräch und Lesung in Hall recht, als er das bittere Resümee zog, dass wir (wer auch immer dieses Wir nun ist: die Guten, die Linken, die Popmusikfans) gerade verloren hätten? Zeigten nicht der Brexit (Rotifers Haus-und-Hof-Thema), das Kavanaugh-Hearing, das Maurer-Urteil, der Unwillen der so genannten Regierung, ein Gesetz zu machen, das allen zu Heiraten ermöglicht und aller anderer Unbill der Gegenwart, zu deutlich, wie sehr wir uns getäuscht hatten, als wir früher mal glaubten, die Gesellschaft würde insgesamt immer besser und Rassismus, Sexismus, Nationalismus, Chavinismus etc. seien nur mehr aussterbende Restphänomene der dunklen Vorzeit? Wird wirklich alles immer nur noch blöder und ist unsere Hoffnung darauf, einmal in einer zumindest ein bisschen weniger widerlichen Gesellschaft leben zu müssen, auf absehbare Zeit gegenstandlos? Haben wir alles falsch gemacht?

Und wieso sprießt gleichzeitig gerade jetzt wieder einmal die klügste, furchtloseste, verwirrendste und liebevollste Pop-Musik seit langem? Wieso eröffnet uns Anna Calvi auf ihrem Album „Hunter“ gerade jetzt neue Welten, wie Sexualität, Souveränität und Verantwortlichkeit noch einmal ganz neu und anders gedacht (und gemacht) werden können und macht das noch dazu so unheimlich einfach und sexy? Wieso veröffentlicht Jens Friebe ein Album mit dem Tausendgulden-Titel „Fuck Penetration“? Hat damit der Popdiskurs endlich dorthin gefunden, wo uns die gerade erscheinenden Übersetzungen von Paul Preciados pharmapornographischen Queer-Theory-Eskapaden und Silvia Federicis marxistisch informierter feministischer Kritik von Reproduktionsarbeit bestimmt und behutsam hingeführt haben? Wird also alles nicht nur schlimmer, sondern auch besser, wenn wir immerhin besser über Sex denken und singen können?

Oder sind all das nur elitäre Flausen einer kleinen Blase, die kaum jemand versteht und niemand teilt? Habe ich mich einfach zu weit entfernt von der Gedanken- und Erfahrungswelt der normalen Menschen? Wer sind normale Menschen?

Hat eine österreichische Tageszeitung mit ihrem Projekt, Menschen mit unterschiedlichen Meinungen zum Reden zusammen zu bringen, einen Weg gefunden, die Menschen aus ihren elitären Blasen, aus einen Wir/Ihr-Denkschema zu treiben? Warum haben alle mir bekannten, die sich dort angemeldet haben, die Auskunft erhalten, es gäbe leider keine Gesprächspartner*innen für sie, die ausreichend anderer Meinung sind? Und ist es nicht ein zwar liebenswürdiger und einleuchtender, aber falscher Gedanke, wirkliche Konflikte ließen sich durch ein einfaches Gespräch lösen? Gilt nicht für das Reden mit Rechten, was Diedrich Diederichsen in der Spex einmal gesagt hat, nämlich dass das falsch ist, weil das bedeuten würde, dass es da irgendetwas gäbe, mit dem sich auseinanderzusetzen lohne. Aber sind nicht Rassismus und Sexismus immer noch keine Meinungen, sondern schlicht und ergreifend nicht zu akzeptieren? Ist nicht jedes sich Einlassen darauf ein unfreiwilliges Mitspielen des Spiels der Rechten, den Diskurs immer weiter nach rechts zu verschieben? Wäre hier nicht besser: Nicht einmal ignorieren?

Vermischt diese Kolumne nun endgültig zu viel verschiedenes? Warum bin ich jetzt zu Diederichsen gegangen? Warum lese ich so viel Paul Preciado und höre dazu Anna Calvi? Solltet ihr das besser auch tun? Sollen wir bei der Veranstaltungsreihe wie der „Reclaim Your Club – Club Against Reality“ darüber reden?

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Martin Fritz (erschienen als Vorwort im p.m.k Programmfolder 11/12_2018)