Now You’re Younger, Take Lost Liabilites Apart

Ehrlich gesagt sind meine beiden allerliebsten Beschäftigungen Schlafen und (wie bereits in meinem ersten Vorwort hier angedeutet) TV-Serien mit Vampiren anzusehen. Und unlängst habe ich geträumt, Bekannte von mir hätten einen Lesezirkel zum Thema „Identitätspolitik und Überforderung“ gegründet, und war davon sehr begeistert. Im Unterschied zu vielen anderen Träumen hielt und hält diese Begeisterung im wachen Zustand weiter an, wenngleich auch aus unterschiedlichen Gründen. Im Traum wurde ein Reader angelegt, zu dem jede Woche jemand von den Teilnehmenden einen Text beisteuern sollte. Dass der großformatige Umschlag dieses Ordners mit dickem rosa Plüsch und aufgeflockter Titelbeschriftung in der Schriftart der Suhrkamp-Bücher am Cover ausgestattet war, reichte im Traum schon aus, um meine Teilnahme am Lesekreis zu motivieren, auch wenn ich mir im Traum wie immer schon dachte, was ich wach meistens auch denke: dass ich dafür wie für das meiste Schöne und Wichtige eigentlich gar keine Zeit habe. Aufgewacht finde ich nun vor allem das Thema relevant genug, um darüber länger gemeinsam mit anderen nachzudenken.

Denn ist es nicht geradezu zwingend, mit einem Schlagwort wie Identitätspolitik überfordert zu sein, das doch als ursprünglich progressive Strategie für marginalisierte Gruppen von Menschen angetreten war, um sich einerseits der Vereinnahmung von reaktionärer Seite und andererseits den Anfeindungen deren gegenüber zu sehen, die die Bedürfnisse von allen Identitäten außer den Standardisierten schon immer nur als Nebenwiderspruch sahen? Irgendwie folgerichtigerweise sind die Letzteren häufig dieselben, die auch finden, es müsse nun mit dieser geschlechtergerechten und auf andere Ausschlusskriterien hin sensiblen, möglichst gewaltfreien Sprache irgendwann auch genug sein, die freundliche Bitte von Betroffenen, sich z.B. nicht jeden unreflektierten Sexismus mehr bieten lassen zu müssen, sei Zensur und überhaupt die heutige Jugend viel zu streng, lahm und brav, wenn sie ständig Safe Spaces und Trigger Warnings einfordere, anstatt alte Filme und Rockmusik gut zu finden, in denen Männer halt noch so richtige Männer sein dürfen, so wie es eben immer schon war.

Rätselhaft, wie diese Anti-Political-Correctness-Haudegen nicht hören können, dass sie gleich klingen wie früherTM die, denen die Jugend früher bereits zu „kommerziell“ und zu wenig „subversiv“ geworden war, die damals doch schon so geklungen hatten wie noch früher die, denen zufolge die jungen Leute damals zu lange Haare hatten und zu laute Musik hörten. Für die Gegenwart verstehen wollende hingegen ist die Ausgangslage doch stets: The kids are alright (sogar wenn sie so unverständliche Merkwürdigkeiten wie Vaporwave hervorbringen). Oder doch nicht? Ist das zu entscheiden überfordernd?
Aber natürlich ist es ausgerechnet von meiner Butterseite aller möglichen Subjektpositionen aus gesprochen (nämlich als jemand, der von den meisten als halbwegs gesunder, wohlhabender, weißer etc. Cis-Mann gelesen wird), ausgesprochen kokett, sich angesichts dessen den Luxus von Überforderung, Schlaf und Vampirserien leisten zu wollen. Vielmehr gelte es doch zu bedenken, dass ich selbst mit meinen Identitätsanteilen oft genug genauso Teil des Übels bin bzw. umgekehrt, das Übel ein Teil von mir. Es ist dies die Lektion, die noch jeder anständige Vampir jeder ordentlichen Vampirserie lernen musste, dass er selbst bei besten Absichten nichts daran ändern kann, dass der Dämon ein Teil von ihm und er ein Teil des Dämons ist. Dies auszuhalten und irgendwie weiterzumachen ist das Schicksal dieser Vampire. Was die Betrachter*innen dieser Vampirserien dabei lernen können, ist, dass es weniger darum geht, wer und wie jemand ist, als was diese Geschöpfe tun.

Hätte ich dafür Zeit, hätte ich im Lesezirkel jedenfalls wohl Roland Barthes zu lesen vorgeschlagen, denn der schreibt einmal: „Es ist niemals gut, gegen ein kleines Mädchen zu argumentieren.“ Außerdem hätten wir dort und damit vielleicht herausgefunden, warum es kein Zufall ist, dass es gerade junge Frauen sind, die die relevante Kunst unserer Zeit machen, wie etwa die altersmilde Miley Cyrus, die sich Younger Now fühlt, Lorde, die mit der nötigen Härte und Offenheit der Jugend aushält, eine Liability zu sein, Kate Tempest, die trocken feststellt: Europe Is Lost oder Kelela, die verlangt: Take Me Apart. Hätten wir dafür Zeit, wüssten wir also: Was verloren und auseinander genommen wurde, kann wiedergefunden und neu zusammengesetzt werden. Damit könnten wir dann überfordert sein und schlafen wie Babys.

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Martin Fritz (erschienen als Vorwort im p.m.k Programmfolder 11/12_2018)